Gewahrsein (I) - es ist verwickelt

Die Einzigartigkeit jedes Standpunktes, jedes Blickwinkels kann offenbar nur "überwunden" werden, indem der Standpunkt zu anderen Standpunkten wechselt. Und wiederkehrt. In solchem Wechsel allein, der auch als stetige Änderung erscheinen kann, liegt die Einheit der Welt.

Das Erfassen dieser dynamischen Einheit geht über bloßes Bewusstsein hinaus, weil Bewusstsein (I) immer zu umschreibender Kondensation neigt, das heißt zur Bildung symbolischer, quasistatischer Gegenstände. Dagegen ist der Wechsel zu anderen Standpunkten - anderen individuellen Einstellungen - natürlich offener. Die Wahrnehmung dieses Wechsels nenne ich deshalb Gewahrsein.

Gewahrsein ist also niemals "fest". Es ist immer das Werden von etwas anderem, genauer gesagt von vielem anderen: Es entsteht ständig aus dieser Wechselbewegung und besteht nur in ihr. Es ist damit auch Wahrnehmung von Potential.

Doch wessen Potential? Nein, nicht unseres, falls mit "unser" ein quasistatisches Selbstbild gemeint sein soll. Denn ein solches Bild wäre schon weitgehend festgelegt. Stattdessen, um beispielsweise von der Individualität eines Beamten zu der eines Hobbykünstlers zu wechseln, muss der Beamte "aufgelöst" und neu zum Künstler verdichtet werden. Nicht der Beamte hat sich bewegt, sondern der Wechsel vom einen zum anderen wurde unterschiedlich zusammengewickelt. Dabei sind sich sowohl der Beamte als auch der Künstler ihres alternativen Selbst gewahr. Außerdem sind sich beide der potentiellen Blickwinkel auf dem Weg vom Büro ins Atelier und wieder zurück gewahr. Und sie sind sich darüber hinaus der möglichen Einstellungen im Kino oder Theater gewahr. Und der unterschiedlichen Positionen innerhalb des Büros, des Ateliers und des Zuhauses.

Das Gewahrsein ändert sich zwar mit jeder Einstellung, aber es bezieht alle potentiellen Standpunkte ein. Mal hat der eine Vorrang - er ist mehr real und weniger potentiell -, mal der andere. Mal ist das Gewahrsein beschränkter, zum Beispiel auf die Seiten einer Akte, dann wieder offener mit Blick ins Leben. Aber selbst in der Akte kommt gelegentlich der Künstler zum Tragen, und im Künstler der Pedant. Und Zuhause alle beide.

Geistig wechseln wir schneller als psychisch oder körperlich, denn Psyche und Körper sind "gefestigter". Die psychische Wechselstruktur ist tiefer verwickelt, und auch der Körper ist das Ergebnis von relativ stabilen Wechseln ("Wechselwirkungen"), die wir kaum überschauen. Doch es gibt strenggenommen keine Stelle, an der wir sagen können "Jetzt haben wir die Position gewechselt", denn "wir" bestehen ausschließlich aus verwickelten Wechseln. Es gibt im Grunde nur Gewahrsein.

Doch wer gewahrt den Wechsel des Gewahrseins? Eine schöne Fangfrage.

In Wirklichkeit ist Gewahrsein immer Wechsel zwischen anderem Gewahrsein, nämlich zwischen Perspektiven der ganzen Wechselei. Das Gewahrsein wechselt wie gesagt den Rang, die Hierarchie der potentiellen Einstellungen. Wenn das "Beamtenwesen" spricht, schweigt die Inspiration überwiegend und umgekehrt. Wessen sich der Beamte jedoch ebenfalls gewahr ist, ist der Nachrang seines Gewahrseins im Gewahrsein des Künstlers (und so weiter). Mit dem Gewahrsein wechselt dann auch die ganze Verschachtelung von absteigenden Prioritäten, Blickwinkeln und Drehungen.

Was also gewahren wir kurz gesagt?
  • Alles Einzigartige ist in allem Einzigartigen enthalten.
  • Der Wechsel der Einzigartigkeit ist das Natürlichste der Welt.