Wahrheit, Harmonie und freier Wille

Der Kanal des Realitätstrichters fasst den Wechsel der weniger bewussten Standpunkte "perspektivisch" zusammen. Doch wenn sie dort nicht nur umherspringen, wirken sie auch enger aufeinander zurück und sind stellenweise zu Kernen gewickelt, die viele Perspektiven harmonisch verbinden. (Ohne Harmonie fielen sie wieder auseinander.)

So ein vergleichsweise harmonischer Kern wie zum Beispiel unser inneres Selbst kann unser Gewahrsein (I) zusammenhalten, und von ihm gehen wahrscheinlich umfassender harmonierende Denk- und Handlungsimpulse aus als von den Anpassungsrollen unseres kleinen Egos. Andererseits kann dieses Ego mit alltäglichen Situationen oft besser umgehen. Deshalb widmen sich am besten beide ihrem jeweils eigenen Thema und profitieren nur von der Fertigkeit des anderen. Eine solche Harmonie können wir fühlen wie ein schönes Konzert. Liegt das Ego stattdessen einmal ganz auf der Linie des inneren Selbst, kann man zwar von Einheit sprechen, aber kaum von Harmonie: Die Verbindung ist zu starr und das Duett wahrscheinlich kurz.

Harmonie kann damit als sinnvolle Übereinstimmung übersetzt werden und führt zu einer entsprechend sinnvollen Wahrheitsdefinition: Je mehr Einheit oder Harmonie eines Bewusstseinsinhaltes mit der jeweils umfassenderen Ebene besteht, desto wahrer ist er.

Aufeinander rückwirkende Wechsel (Wechsel­wirkungen) führen also zu einem lockeren hierarchischen Aufbau, in dem Wahrheit stand­punkt­abhängig ist, aber nicht zu sehr. Die individuellen Wahrheiten treffen sich in einer Mitte, die innerhalb ihres verwickelten Gewahrseins wesentlich weniger beweglich ist. Erst wenn sich ihr Gewahrsein weitet, werden noch tiefere Wahrheiten einbezogen, welche die vorherige Mitte auf einer noch umfassenderen Ebene relativieren.

Wenn wir uns noch einmal den Realitätstrichter vorstellen, dann kommen innere Eingebungen durch den Trichterkanal, egal ob Impulse, Ideale oder Empfindungen (alles Bewusst­seins­fokusse, da es nur gewahrten Wechsel gibt). Andererseits findet die bewussteste Umschrei­bung am Trichterrand statt und die Mitte der Gesamt­umschreibung liegt genau auf der Trichter­achse. Und hier wird es spannend:

Wie zur Wahlfreiheit erläutert, treffen wir Entscheidungen irgendwo zwischen Zentrum und Peripherie. Die Gesamtumschreibung "ent­schwindet" nun aber in den Trichterkanal! Sie wird verdichtet - "perspektivisch" bis hin zu einer stärkeren Verwicklung - und fällt letztlich mit der Trichterachse zusammen. Ob eine Entscheidung frei oder von einem inneren Impuls bestimmt ist, kann deshalb letztlich nicht mehr auseinandergehalten werden! Impulse können wir uns nur weiter oben bewusst machen, wo wir dann auch von ihnen abweichen mögen.

Haben wir Grund an unseren Eingebungen zu zweifeln? Das hängt davon ab, ob sie unserem tiefsten Wesen entspringen und von unserer Harmonie mit ihm. Denn Wahrheit ist ja wie gesagt Einheit oder Harmonie mit der jeweils umfassenderen Ebene. Umfassendere Vernetzung unterscheidet aber gerade ein Wesen von jeder seiner Erscheinungen. Je tiefer also der Ursprung einer Eingebung, desto wahrscheinlicher und desto mehr ist unser tiefstes Wesen an ihr beteiligt und desto vertrauenswürdiger ist sie. Und andersherum: Je authentischer wir unser tiefstes Inneres ausdrücken, desto vertrauenswürdiger sind wir selbst.

Dies bedeutet jedoch noch mehr: Wenn uns nicht bewusst ist, gewisse "Beding­ungen" unseres Lebens gewählt zu haben, diese aber aufgrund unserer logischen Schlussfolgerungen gewählt sein müssen, liegt es nahe, dass diese Wahl auf einer umfassenderen Ebene stattfindet und durch unser innerstes Wesen maßgeblich bestimmt wird. Insofern drückt unsere Umgebung eine tiefe Wahrheit über uns selbst aus.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem theoretischen Teil meines Buches